Der Umgang mit Krankheit

Pfarrer Bernd Oberndorfer hat sich für diesen Sonntag Gedanken gemacht über den Umgang mit Krankheit. In seiner Tätigkeit als katholischer Krankenhausseelsorger ist er mit diesem Thema täglich befasst. Er hat gelernt hinzuschauen, denn nicht hinzuschauen bedeutet für ihn, die Betroffenen im Stich zu lassen.

Morgengedanken 4.3.2018 im ORF zum Nachhören:

https://religion.orf.at/radio/stories/2898643/

„Immer wieder bekomme ich Broschüren von Krankenhäusern zugeschickt. Auf Hochglanz gebrachte Leistungsschauen von modernen Gesundheitszentren. Lächelnde Menschen in Wohlfühloasen. Mir ist schon klar, dass mit der Wirklichkeit keine Werbung gemacht werden kann. Dass viele Menschen eben nicht gesund werden, dass Leiden bleibt und auch das Sterben. Blenden wir das alles aus?

Wunden des Lebens

Vor Jahren hat der Künstler Joseph Beuys mit einer Installation in einer Münchener Fußgängerunterführung provoziert. Oben die Welt der Schönen und Reichen. Unten im fahlen Neonlicht zwei alte Leichenbahren, darunter zwei Kästen, mit Fett gefüllt. Ein modernes memento mori: Das bleibt von dir, Mensch: Biomasse. Dazu zwei Schabgeräte, mit denen man Bäume entrindet hat. So liegt der Mensch manchmal bloß, wie entrindet, nichts schützt mehr vor dem Schmerz. Und auf zwei Tafeln steht: Zeige deine Wunde.

Das ist unbequeme Konfrontation mit Krankheit, Schwäche, Sterblichkeit. Wir decken die Wunden unserer Gesellschaft und unseres Lebens nur zu gerne zu. Aber nur eine Wunde, die gezeigt wird, kann geheilt werden.

 

Todesursache Einsamkeit

Der katholische Krankenhausseelsorger Bernd Oberndorfer hat in seiner Tätigkeit im Landeskrankenhaus Graz tagtäglich mit Menschen zu tun, die leicht ihre Hoffnung verlieren. Er besucht Kranke und kann so einiges beobachten.

Morgengedanken 5.3.2018 im ORF zum Nachhören:

https://religion.orf.at/radio/stories/2898646/

Rund um den Valentinstag war ich mit Klebestickern in Herzform unterwegs. Auf einer Intensivstation löst eine Patientin ganz mühsam das Herz von der Folie und klebt es einer Krankenschwester auf die Brust. Sie lächelt mit dem halben intakten Gesicht und sagt: Meiner Lebensretterin! Was war geschehen?

Sinnlosigkeit und Desinteresse

Nach einem Schlaganfall war die alte Dame auf der Intensivstation gelandet. Medizinisch bestens versorgt. Aber kein Mensch fragte nach ihr. Keine Familie, keine Nachbarn. Niemand. So blieb sie in der Apathie ihres Zustandes. Da hat sich diese Krankenschwester weit über ihren Dienst hinaus dieser Frau angenommen. Ihr gezeigt: Für mich bis du wichtig! Es liegt mir daran, dass du kämpfst. Und diese Erfahrung, dass sie jemandem etwas bedeutet, hat diese Patientin neu aufleben lassen. Andernfalls hätte sie sich aufgegeben.

Menschen sterben nicht nur an erhöhtem Cholesterin. Sondern auch am Cholesterin vom Gefühl der Sinnlosigkeit, von Desinteresse, von Einsamkeit. Es liegt an uns, ob die Herzkranzgefäße unserer Beziehungen sklerotisch werden und verstopfen. Oder ob wir ein Herz füreinander haben.

 

 

 

Alles wird gut

Pfarrer Bernd Oberndorfer ist zuständig und mitverantwortlich für die Krankenhaus- und Pflegeheim-Seelsorge in der ganzen Steiermark. Dass da auch – auf den ersten Blick – Ungewöhnliches Platz hat, davon berichtet er heute in den Morgengedanken.

Morgengedanken 6.3.2018 im ORF zum Nachhören:

https://religion.orf.at/radio/stories/2899162/

„Alles wird gut“: Mit ein Meter großen Buchstaben wurde dieser Satz vor der Palliativstation des LKH Knittelfeld positioniert. Heftige Reaktionen wurden ausgelöst, Zustimmung und Ablehnung.

Pfarrer Bernd Oberndorfer
ist Krankenhausseelsorger im Landeskrankenhaus des Universitätsklinikums Graz und Seelsorger für Krankenhäuser und Pflegeheime in der Steiermark.

Menschen, die es aushalten

„Alles wird gut“: Dieses Wort ist jedenfalls eine Herausforderung. Denn genau dieses Vertrauen in das Gutsein des Lebens wird durch schwere Krankheiten oder auch Beziehungsverluste tief erschüttert. Nichts stimmt mehr, nichts mehr passt zusammen, nichts ergibt einen Sinn, nichts ist gut.

In solchen Situationen brauche ich Menschen an meiner Seite. Menschen, die es mit mir aushalten, nicht billig vertrösten und Durchhalteparolen dalassen; auch aushalten, wenn ich ungerecht und zornig werde. Die mich dann aushalten, mir einen Raum offen halten, wo inmitten von Verzweiflung sich plötzlich dieses erstaunliche „Trotzdem“ regt. Wo ich alles klar sehe, mich in keine Illusion und falsche Wunder flüchte, und trotzdem wieder an das Leben glaube, wo ich Resignation überwinde, wo vielleicht ein Patient durch sein Fenster auf dieses Kunstwerk schaut und innerlich zustimmen kann: Alles wird gut.

 

 

 

Bleib da!

In seiner Tätigkeit als Krankenhausseelsorger im LKH Graz baut Bernd Oberndorfer mit Patienten immer wieder Beziehungen auf. Und er lernt von ihnen, wie er heute in den Morgengedanken verrät.

Morgengedanken 7.3.2018 zum Nachhören:

https://religion.orf.at/radio/stories/2899165/

Eine Patientin hat mir das Wichtigste der Seelsorge hinterlassen. Wir hatten uns über die Jahre ihrer Behandlung kennen gelernt. Ich wurde ihr vertrauter Mensch, mit dem sie manches besprechen konnte, was in der Familie oder mit Freundinnen so nicht ging.

Verlorene Sprache

Die besondere Tragik: Eine furchtbare Krankheit nahm ihr Wort für Wort ihre Sprachfähigkeit. Wie wütend und verzweifelt war sie manchmal, weil sie mir so Wichtiges sagen wollte. Genau wusste, was sie sagen wollte. Aber die Worte gingen ihr verloren. Einige Wochen vor ihrem Tod besuchte ich sie zu Hause. Die Kinder sagten, dass die Mama schon einige Zeit nichts mehr sage. Ich setze mich zu ihr, halte sie an der Hand, erzähle ihr aus meinem Leben, erinnere an Gemeinsames, schweige schließlich. Draußen wird es Abend, es dunkelt. Ich will mich verabschieden, meine Hand von der ihren lösen.

Da hält sie mich fest. Ich merke, wie sie etwas sagen möchte. Ein Wort suchte sich seinen Weg durch das Dunkel ihres Verstummens. Und schließlich lösen sich zwei Worte von ihren Lippen: Bleib da! Da bleiben. Darum geht’s.

 

 

 

Hoffnung

Als Krankenhausseelsorger erlebt der Steirer Bernd Oberndorfer eine ganze Bandbreite an Gefühlen: von Freude über das Gesundwerden bis hin zur Verzweiflung, wenn es mit der Genesung nicht funktionieren will oder kann. Und dann gibt es noch ein ganz besonderes Gefühl, sagt er…

Zum Nachhören: https://religion.orf.at/radio/stories/2899166/

Hoffnung. Vermutlich wird an keinem anderen Ort so viel, so intensiv gehofft wie in einem Krankenhaus. Die Patienten, ihre Angehörigen, das Personal – alle hoffen auf Besserung, auf Gesundung. Hoffnung greift auf die Zukunft aus, kennt ein „Worauf“ und ein „Wofür“. Aber kann man denn auf die Zukunft setzen, von ihr etwas erwarten, wenn man nach menschlichem Ermessen gar keine mehr hat?

Ein neues Buch

Da denke ich immer wieder an eine Frau, noch keine 50 war und sie hat Krebs. Krebs – schon das Wort evoziert Bilder der Hoffnungslosigkeit, des Zerstörerischen. Ich erlebe mit ihr Phasen der Besserung und des Zusammenbruchs, Zeiten unglaublichen Gottvertrauens und Tage des Zweifels. Sie selber wird in diesen Monaten immer „lichter“. Alle, mit denen ich über diese besondere Frau gesprochen habe, greifen zu dieser Metapher: Licht. So viel Wärme, innere Freude, Lächeln, Dankbarkeit, Hoffnung gingen von ihr aus.

Tage vor ihrem Tod besuche ich sie und sehe ein neues Buch liegen. „Harry Potter?“, frage ich lächelnd, „und das auf Englisch?“ „Ja“, meint sie, „mich interessiert, was die Jugendlichen da so fasziniert und ich muss außerdem mein Englisch wieder verbessern.“ Ein neues Buch angefangen am Vorabend des Todes: Hoffnung.

 

 

 

Jedem seinen eigenen Tod

Pfarrer Bernd Oberndorfer ist Krankenhausseelsorger im LKH Graz. In seiner Arbeit geht es auch darum, Sterbende zu begleiten. Heute ist das auch das Thema seiner Morgengedanken.

Morgengedanken 9.3.2018 im ORF zum Nachhören:

https://religion.orf.at/radio/stories/2899169/

„O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ Diese Gedichtzeilen notierte Rainer Maria Rilke. „Gib jedem seinen eignen Tod“: Diese Bitte ist auch ein dringlicher Appell, Sterbende nicht allein zu lassen. Ein Tod, der der eigene ist, braucht die Anwesenheit anderer.

Wärme und Geborgenheit

Viele Menschen sind hier verunsichert. Was erwartet mich? Was soll ich sagen? Hört mich der Sterbende überhaupt noch? Halte ich das aus, Gerüche, Blicke, Hoffnungslosigkeit, den röchelnden Atem der Agonie? Gewinnt die Angst, dann bleibt der andere allein. Es braucht mein Mit-Sein: den Sterbenden an der Hand nehmen, berühren, mit ihm schweigen, zuhören und erzählen, behutsam fragen, glückliche Stunden in Erinnerung rufen, wachen.

Oft wird das Sterben mit der Geburt verglichen. Ein Neugeborenes, das zur Welt kommt, versteht nicht, hat kein kognitives Bewusstsein, es fühlt einfach Wärme, Geborgenheit, es riecht die Mutter. Am Ende unseres Lebens ist es auch so, der Sterbende löst sich aus seinem Bewusstsein, er fühlt aber Wärme, Geborgenheit. Und vielleicht überlege ich mir, wer mich auf dieser Wegstrecke begleiten soll!?

 

Das Leben ist doch schön

Pfarrer Bernd Oberndorfer ist als katholischer Krankenhausseelsorger im Landeskrankenhaus Graz tätig. Für ihn gehört es ganz selbstverständlich dazu, über das Leben nachzudenken, über den Tod – und über das Leben nach dem Tod.

Morgengedanken 10.3.2018 im ORF zum Nachhören:

https://religion.orf.at/radio/stories/2899171/

Am Krankenbett darf man nur sagen, was man wirklich denkt. Alles andere entlarvt sich ohnehin. Ich erinnere mich an einen Patienten, Anfang zwanzig. Ein wunderbarer junger Mensch. Gutaussehend, sportlich, intelligent. Dazu eine tiefe soziale Begabung und er wusste mit der Unbedingtheit seiner Jugend, was richtig ist. Und dieser wunderbare Mensch leidet an einer Krankheit, die er nicht überleben wird.

Leben nach dem Tod

Ich treffe ihn wieder zu einem Zeitpunkt, als ihn die Ärzte mit der Wirklichkeit seines nahen Sterbens konfrontiert hatten. Ich sitze einfach bei ihm und er wiederholt eine gute halbe Stunde den Satz: Aber das Leben ist doch so schön. Aber das Leben ist doch so schön. Es ist kein lauter Protest. Trotzdem weiß ich nichts zu antworten. Da stellt er plötzlich die Frage nach dem Himmel. Wir philosophieren über den Himmel. Albern herum. Was wir uns so vorstellen. Theologisch sicher nicht korrekt.

Und plötzlich schaut er mich an und fragt: Du, Pfarrer, glaubst du das wirklich? Das vom Himmel? Das vom Leben? Es war der Ernstfall des Glaubens. Kein Ausweichen möglich. Und ich sage: Ja, ich glaube an dieses Leben.

 

 

 

Das Kreuz – ein Zeichen im Widerspruch

Unsere Arbeit im Krankenhaus vollzieht sich im Zeichen und in der Wirklichkeit des Kreuzes. Das Kreuz markiert die Grenze des Widerspruchs. Es trennt und vereint Gegensätzliches.

Ich gehe in ein Krankenzimmer und spende zwei Menschen die Krankensalbung. Der eine geht nach Tagen nach Hause, der andere wird im Sarg weggebracht. Ich taufe zwei neugeborene Zwillinge – das eine zum Leben, das andere zum Tod. Ich leide mit, habe Tränen in den Augen, bin selber ohnmächtig sprachlos – und doch soll ich die Ohnmacht, Trauer, Wut, den Schmerz der anderen teilend zur Sprache bringen; ich soll schweigen und doch Antwort geben. Aber nie ist sicher, wie und ob die Antwort erreicht.

Mein Wort ist richtig und zugleich falsch. Einer Mutter am Sterbebett ihres Kindes zu sagen, dass es im Himmel ist, kann stärkstes Wort der Hoffnung für die eine bedeuten und billige, fast zynische Vertröstung für die andere. Ja für dieselbe Person heute stärkend und glaubhaft und morgen absurd und abstoßend.

Bei einem Gedenkgottesdienst für totgeborene Kinder hat mir eine Mutter von ihrer Empörung erzählt, die sie einer Frau entgegengeschrien hat, als diese sagte, ihr Kind sei im Himmel und es gehe ihm gut: „Ich will mein Kind nicht im Himmel, ich will es in meinen Armen!“ Aber allmählich habe dieses Bild in ihr Platz gegriffen und jetzt habe sie das Gefühl, der Himmel habe ihr das Kind wiedergegeben.

Seelsorge geschieht oft im Widerspruch: Ich glaube – ich will nicht glauben; ich hoffe – es ist hoffnungslos; Gott liebt mich – Gott hat mich vergessen; ich hasse – ich verzeihe. Krankheiten durchkreuzen unseren Lebensweg. Das Schicksal macht uns einen Strich durch die wohlgeordnete Rechnung des Alltags. Wir werden zum Innehalten gezwungen. Die Mitte leuchtet auf. Eine Chance bietet sich. Etwas Neues kann sich ereignen. Doch vielleicht müssen wir auch das Alte erst loslassen. Etwas stirbt in uns, damit wir neu geboren werden können. Das Kreuz kennzeichnet all dieses heftige Ringen und den Durchbruch zum Neuen. Diese Widersprüche dürfen nicht vorschnell eingeebnet, müssen vielmehr in der Begleitung ausgehalten werden. Und zum Berührendsten gehört es, wenn man Zeuge sein darf, wie ein Mensch das Widersprüchliche aushält und überwindet: Ich habe meinen Glauben verloren – trotzdem sehne ich mich danach. Ich wurde furchtbar enttäuscht und verletzt – trotzdem möchte ich wieder lieben. Trotzdem…

Das Kreuz bloß Siegel, Aushängeschild, ja Werbemittel einer katholischen Konfession oder gar harmloses Accessoire? Das Kreuz politisch instrumentalisiert? Sicherlich nicht. Wer solches meint, der sieht schlichtweg nicht tief genug. Das Kreuz markiert Begegnung, Widerspruch, Trost, Schmerz, Hoffnung, Schutz, Segen, Aufbruch, Leid, Ende, Wandlung, Entscheidung, Liebe…Seine Sinnfülle lässt sich nie ausbuchstabieren.

Warum der Schmerz?, fragen die Menschen in ihrer Not. Warum müssen gerade die Schwachen und Kleinen der Erde leiden? Warum Demütigungen? Das fragten die Menschen aller Zeiten Gott. Und Gott schien zu schweigen…Dann endlich kam Gott in die Welt, im Kind in der Krippe, um in diese Welt hineinzusagen: Ich liebe dich, du Welt und du Mensch. Und er hat diese Liebe ausgehalten bis zum Schmerz und Tod am Kreuz. Im Zeichen des Kreuzes wurden Liebe und Leben neu aufgerichtet. Das Kind in der Krippe ist genau wie das Kreuz kein Idyll, sondern ein Skandal (Bischof Klaus Hemmerle).

Pfarrer Bernd Oberndorfer