Im Sakrament der Krankensalbung kann man vielleicht am unmittelbarsten sehen, was christliche Botschaft überhaupt will, wofür Kirche sein soll, ihr ganzer therapeutischer Wille drückt sich zeichenhaft darin aus.
„Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“, sagte Jesus selbst von sich. Der Kontext dieses Satzes steht zwar in die Rechtfertigung Jesu, warum er sich denn mit Zöllnern, mit öffentlichen Sündern abgibt, aber es ging Jesus nicht nur um die sozial Aussätzigen, sondern auch die durch Krankheit Aussätzigen. Ein ganzes Fünftel aller Evangelientexte berichtet direkt von solchen Heilungen.
Nach Jesu Überzeugung ist die Krankheit eine geradezu privilegierter Ort, wo sich die Zuneigung Gottes zu allem, was schwach und verletzlich ist, manifestiert, ein Anlass für das Wirken Gottes, das heilend und helfend ist. Krankheiten sind Unheilsituationen, aus denen Gott herausführen möchte. Heilungen sind anderseits Zeichen für die angebrochene Gottesherrschaft. Der Theologe Adolf von Harnack hat gesagt, Jesus ist geradezu als Arzt in die Mitte seines Volkes getreten. Da gibt es noch keine Trennung von Seelenleiden (Sünden), von psychischen und körperlichen Krankheiten. Christus als Arzt heilte Sünder wie Kranke. Und die Kirche hat den Auftrag Jesu übernommen: „Geht hin und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, ja weckt Tote auf.“ Im Markusevangelium heißt es: Und die Jünger salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie. Ganz offensichtlich schloss die Praxis Heilungsgesten wie Handauflegung und Salbung mit Öl zusammen mit einem Heilswort von Anfang an mit ein. Diese Praxis ist im Kern noch heute dieselbe. Die Therapie besteht in Handauflegung, Salbung mit Öl und Gebet. Die zugesagte Wirkung besteht in der Rettung und Aufrichtung des Kranken und in seiner Versöhnung mit Gott.
Der „Sitz im Leben“ der Krankensalbung ist die Krankheit als eine gesamtmenschliche Unheils- oder Krisensituation. Krankheit wird hier nicht als bloße medizinisch-biologische Störung, die schlimmstenfalls zum Tod führen kann, verstanden, sondern als Erschütterung des gesamtmenschlichen Befindens. Weil der Mensch Einheit von Leib und Seele ist (den Leib nicht nur hat), betrifft ihn jede schwere Krankheit und auch jeder schwere Beziehungskonflikt behindert ihn in seinen Lebensmöglichkeiten, lähmt seine Aktivitäten, lässt ihn Grenzen und Ohnmacht erfahren. Und hier geht es um die Bewältigung dieser personalen Unheilssituation. In diesem Sinne verstehen wir Heilung (auch durch das Sakrament) nicht medizinisch als Behebung einer Krankheit, sondern gesamtmenschlich als Sieg über diese Krankheit. Somit kann die Krankheit als körperliches Phänomen unverändert ihren Lauf nehmen, doch von der personalen Heilsgeschichte her gesehen wird sie nicht länger als Unheil gesehen. Der Mensch nimmt seine Erkrankung an. Und dieser innere, die Krankheit wendende Vollzug ereignet sich oft im Zusammenhang mit dem sakramentalen Geschehen der Krankensalbung. Gott begegnet dem Menschen mitten in seiner Not.
An einer von unzähligen Lebensgeschichten sei das verdeutlicht: Ich treffe eine Patientin mittleren Alters. Sie ist nicht besonders kirchlich verankert, aber spirituell offen. Ihre tiefe Niedergeschlagenheit und Trostlosigkeit verleiht sich Ausdruck im Gefühl umfassenden Verschuldens, trostlosen Verlassenseins und Bestraftseins von Gott. Bei zwei Einzelgesprächen bekomme ich langsam Einblick in einen tragischen Lebensverlauf: tiefes Gefühl des Ungeliebtseins von der Mutter, den sehr geliebten Vater hat sie früh verloren. Dann eine kurze, sehr glückliche Ehe. Aber ihr Mann begeht in Depression Selbstmord. Aus dieser Zeit blieben noch viele Schuldgefühle, Fragen und Widersprüche: Habe ich ihm zuwenig meine Liebe gezeigt? Warum hat er mir das angetan? Sie ist noch immer wütend auf ihn, verbietet sich aber zugleich diesen Gedanken als schuldhaft. Sie bleibt dann Jahre partnerlos und zieht das gemeinsame Kind alleine auf. In die Zeit nach dem Tod ihres Mannes fällt auch die erste Erkrankung.
Als das Kind erwachsen, ist kommt es zu Zerwürfnissen, als die Patientin einen Mann kennenlernt und mit ihm eine Partnerschaft eingeht. Dramatische Trennungen folgen und deswegen hat sie tiefe Schuldgefühle.
Ich lege ihr einen Satz aus dem ersten Johannesbrief nahe: „Wenn unser Herz uns verdammt ist Gott größer als unser Herz.“ Ich ermutige sie, ihre dunklen Gefühle zu äußern und da sein zu lassen. Denn biblischen Satz wenden wir gemeinsam um auf: Wenn unser Hass verdammt, dann reicht unsere Liebe tiefer als unser Hass. Bei der Krankensalbung, die mit der Beichte vorweg verbunden ist, wiederhole ich diesen Satz und schließe die Vergebung mit der zärtlichen Zusage Gottes im Sakrament der Krankensalbung: Bei der Salbung der Stirn sage ich ihr die Versöhnung und das Heil zu. Bei der Salbung der Hände betone ich den Halt, die Fürsorge, die Liebe, die sie mit diesen Händen geschenkt hat und schenkt. Ich bestätige das Gelungene und Kostbare ihres Lebens durch diese Salbung.
Nach einem halben Jahr treffen wir uns wieder und sie schildert die Krankensalbung als das intensivste Gefühl, das sie je hatte, das Gefühl, mit Zuneigung überflutet zu werden, dass Dämme der Verbitterung brachen. Sie erzählt mir von der Versöhnung mit ihrem Kind. Und fast nebenbei bemerkt sie: „Auch die Krankheit hat sich wieder zurückgezogen.“
Manchmal geschehen durch dieses Sakrament auch körperliche „Wunder“, aber die eigentlichen Wunder liegen für mich in der Kraft der inneren Versöhnung und des Trostes, dass dieses Sakrament uns offen und empfindsam macht für uns selbst und für andere, dass Gott so zärtlich und direkt spürbar wird.
Pfarrer Bernd Oberndorfer